Nathaniel

Bewahrer der Koexistenz

Die Tote in der Gasse

Genug der Erklärungen, lassen Sie mich mit der eigentlichen Erzählung beginnen. Wie ich bereits sagte, bin ich der Bewahrer der Koexistenz, was bedeutet, dass ich sehr eng mit den Menschen zusammenarbeite, in diesem Fall mit der Polizei. Ich gehöre einer Spezialeinheit an, die immer gerufen wird, wenn es zu ungewöhnlichen Todesfällen kommt; besser gesagt, ich bin die Spezialeinheit. Viele Polizisten kennen mich bereits, jedoch wissen nur wenige von meiner wahren Natur. Ich bin der seltsame Ermittler, der immer wieder an Tatorten erscheint, das Opfer und die Umgebung untersucht und dann wieder verschwindet. Der normale Beamte kennt mich nur von diesen kurzen Auftritten. Andere begleitete ich bereits mehrfach bei ihren Ermittlungen und unterstützte sie gegebenenfalls.

So kam es, dass ich auch an diesem Abend an eben einem solchen Tatort erschien. Die Spurensicherung war bereits im vollen Gange, als ich nach Sonnenuntergang in die abgelegene Gasse bog, in der das Opfer unter einer Decke versteckt lag. Nachdem ich, ohne aufgehalten zu werden, an den blau leuchtenden Streifenwagen vorbei ging, konnte ich bereits den alten Ermittler sehen, der an der Ecke zum besagten Tatort lehnte und mit seinem üblich verkniffenen Gesichtsausdruck eine Zigarette rauchte. Smith war sein Name, was mich jedes Mal grinsen ließ. Neben ihm stand eine junge Ermittlerin, der ich bisher noch nicht begegnet war. Sie redete, während der alte Ermittler, Sergeant Smith, nur nickte und brummte, dass ich die Vibration seiner Stimme fast spüren konnte.

„Diese Dinger werden sie umbringen, Smith!“, sagte ich amüsiert, als ich hinter ihnen zum Stehen kam. Ich konnte sehen, dass beide zusammenfuhren, da sie mich nicht hatten kommen hören. Ein Umstand, der mir nicht fremd war.

„Sergeant Smith“, verbesserte er mich und zog demonstrativ an der Zigarette.

„Wie auch immer“, erwiderte ich, wandte mich der jungen Frau zu, die mich überrascht anstarrte.

„Officer Taylor“, brummte der Sergeant, als er sie mit einer kurzen Kinnbewegung vorstellte. „Special Agent wie war gleich der Name?“

Ich lachte, denn ich wusste, dass es seine Rache für meine Ignoranz gegenüber seinem Rang war. Manchmal empfinde ich die Interaktion mit Menschen als amüsant. „O’Dell!“, stellte ich mich selbst vor und nickte ihr kurz zu, bevor sie ihre Hand ausstreckte. Es war nicht, wie es manche Vampirliteratur aufgreift, die Kälte meiner Hand, die Menschen grundsätzlich erstarren lässt, die mich so handeln ließ. Nachdem ich Blut getrunken habe, ist mein Körper gewöhnlich alles andere als eiskalt. Nein, vielmehr veranlassten mich die Handschuhe, die ich bereits übergestreift hatte, dazu, auf einen Händedruck zu verzichten.

„Was haben wir hier?“, fragte ich kurz, kniff die Augen zusammen und scannte die Umgebung nach untoten Spuren.

„Einen Mord“, murmelte Sergeant Smith. Ich war sicher, dass die junge Einsteigerin nicht bemerkte, dass ein Schmunzeln in seinen Mundwinkeln lag.

„Überraschung“, erwiderte ich. „Und wozu haben Sie mich angefordert?“

„Special Agent O’Dell, ich fordere Sie nicht an, Sie werden mir in solchen Fällen aufgedrückt.“

„Das tut mir leid“, erwiderte ich, doch sein hustendes Lachen ließ mich wissen, dass er verstand, dass mir dieser Umstand vollkommen egal war. Officer Taylor starrte mich immer noch an, ließ ihre Augen nur kurz zu ihrem alten Kollegen wandern. „Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, fragte ich daher, woraufhin unübersehbar Blut in ihre Wangen schoss und sie sich peinlich berührt abwandte.

„Baggern Sie nicht das Mädchen an, O’Dell, machen Sie lieber Ihre Arbeit! Ich habe keine Lust bis morgen früh hier zu stehen.“

„Ein Mord, also“, murmelte ich. „Da Sie mir offensichtlich die Überraschung nicht verderben wollen, werde ich selbst nachsehen, weshalb Sie mich anforderten.“

„Versauen Sie mir nur nicht den Tatort!“, rief er mir hinterher und sein tiefes, hustendes Lachen verfolgte mich, als ich die schmale Gasse betrat und mich langsam dem zugedeckten Opfer näherte. Die Leute der Spurensicherung kannten meine Auftritte während ihrer Arbeit und ignorierten mich. Noch nie hatte ich ihnen einen Tatort versaut, um es mit Sergeant Smiths Worten zu sagen. Und das würde auch niemals passieren. Vielmehr sorgte ich mich, dass sie bereits meinen Tatort verunreinigt hatten. Ich würde mir die Fotos später ansehen und mit meinen Eindrücken vergleichen müssen. Der Gerichtsmediziner vor Ort warf mir einen kurzen Blick zu, deckte die Leiche auf und trat wortlos zurück. Ich betrachtete sie eindringlich. Es war eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, die vor mir auf dem Bauch lag. Ihr Kopf schien ungewöhnlich positioniert, was daran liegen konnte, dass ihr Genick gebrochen war. Ihr platinblond gefärbtes Haar roch noch immer nach Blondierungsmitteln. Orangeroter Lippenstift auf ihren vollen Lippen, zu starker Lidschatten und zu viel Makeup zeugten davon, dass jemand eher Quantität, statt Qualität zu schätzen schien. Ihre Kleidung bestand aus einem kleinen Schwarzen. Der hohe Polyesteranteil – nämlich hundert Prozent – bestätigte das fehlende Geschick oder Geld für Qualität. 

Auszug

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