Nathaniel
Bewahrer der Koexistenz
Fortsetzung Prolog
Sicher fragen Sie sich jetzt, warum ich ein Konzept schütze, dem ich nie zustimmte, weshalb ich den Kreis die Suppe nicht allein auslöffeln ließ, die sie sich eingebrockt hatten. Nun, das hätte ich sicher tun können, doch ich gebe zu, dass ich nur ungern die Fäden vollkommen aus der Hand gebe. Ich bin nicht der Typ, der andere machen lässt und sich das Spektakel aus der Ferne ansieht. Natürlich hatte ich mit dem Gedanken, mich abzuwenden und meine Zeit abzuwarten, hämisch zuzusehen, wie ihnen ihre Pläne und ihre Koexistenz um die Ohren fliegen, gespielt. Doch tatsächlich, in einem verräterischen kleinen Winkel meines Gehirns, hatte ich mich gefragt, welche Rolle ich spielen würde, wenn diese Koexistenz doch funktionieren sollte. Ich hatte beschlossen, mir einem Sitz in der ersten Reihe zu sichern, eine Position, die es mir nicht nur erlauben würde, den Kreis im Auge zu behalten, sondern auch, mir eine gewisse Bekanntheit in der Vampirwelt und damit ein gewisses Quäntchen Macht zu sichern.
Aber es ist nicht nur mein aus meiner Position als Vampirjäger und Henker resultierender Ruf, der mir Macht verleiht. Film- und Literaturvampire greifen immer wieder Eigenschaften und Fähigkeiten auf, die wir tatsächlich besitzen. Übermenschliche körperliche Kräfte, geschärfte sinnliche Wahrnehmung, hier vor allem Nachtsicht und Gehör, gesteigerte Widerstandsfähigkeit, um die bekanntesten zu nennen. Darüber hinaus verfüge ich über einige mentale Tricks, die es mir als einer der ältesten Vampire erlauben, sogar Artgenossen meinem Willen zu unterwerfen. Kurz, ich bin eine furchterregende Bestie hübsch verpackt. Nennen Sie es wegen mir Arroganz, doch mein äußeres Erscheinungsbild allein macht es fast zu leicht, Menschen wie Vampire in meinen Bann zu ziehen. Doch all diese Fähigkeiten kosten Energie – Energie, die genährt werden will. Sie wissen, was ich meine, ich spreche von Blut, menschlichem Blut. Wir brauchen Blut zum Überleben, wie Menschen Wasser. Tierblut lässt uns überleben, doch es verkrüppelt unsere Fähigkeiten. Nur menschliches Blut verleiht uns Macht. Nur menschliches Blut verleiht uns Menschlichkeit. Tierblut macht uns zu Bestien. Und hier sind wir schon beim Kern der Koexistenz angekommen. Die Menschen geben uns, was wir brauchen, und wir geben ihnen, was sie wollen: den Schein, die Welt zu beherrschen, die Krone der Schöpfung zu sein. Wir lassen sie ihre Gesetze aufstellen, ihre Kriege führen, ihre Gesellschaft gestalten und sie akzeptieren, dass wir uns von ihnen ernähren. Das ist die Koexistenz.
Es gibt Menschen, die uns erkennen. Sie haben die Fähigkeit uns als das zu sehen, was wir tatsächlich sind: Vampire. Diese Menschen könnten die Koexistenz gefährden, weshalb die Menschen dafür sorgen, dass sie mit Vampiren aufwachsen und uns als selbstverständlich erachten. Jedes Krankenhaus, jede Einrichtung, die mit der Geburt menschlicher Nachkommen zu tun hat, wird von der Regierung mit vampirischem Personal versehen, das die begabten Kinder zu erkennen sucht, denn bereits Neugeborene verfügen über die Fähigkeit. Ist ein Mensch als sensitiv aufgefallen, gerät er sofort in das Erziehungsnetz der Regierung und wird als Bewahrer der Koexistenz erzogen. Viele dieser Menschen dienen uns später als Spender und versorgen uns mit ihrem kostbaren Blut. Daher ehren Vampire ihre Spender und wir geben ihnen, was sie begehren.
Ich selbst habe zurzeit drei Spender, die ich hüte, wie meinen Augapfel. Gnade Gott demjenigen, der es wagt, sich meinen Spendern auf bedrohliche Weise zu nähern. Ich würde alles tun, um sie vor Üblem zu bewahren – alles! Sie sind mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Und obgleich ich schon viele Spender habe altern und vergehen sehen, jeder einzelne von ihnen hat einen ganz besonderen Platz in meinem kalten Herzen. Auch wenn es so aussieht, als würden sie ein normales Leben führen, so wirkt ihr Leben für jemanden, der nur kleine Einblicke erhält, wohl alles andere als normal. Sie leben in meinem Haus, am Rande einer großen Stadt, die bereits eine lange Geschichte hinter sich hat, wenngleich nicht so lange wie ich selbst. Es ist ein Haus, das einem Vampir würdig ist, ein Haus, das selbst aus einer Gothic Novel zu stammen scheint. Kitschig, werden Sie denken, klischeehaft, doch Sie wären überrascht zu sehen, dass dies nur auf den ersten Blick so scheint. Auch Vampire wissen die Annehmlichkeiten moderner Technik zu schätzen. Auch Vampire lieben Ambiente und Gemütlichkeit. So ist mein Haus mit allem eingerichtet, was das Herz begehrt – vor allem die Herzen meiner Spender. Wenn man so lange auf dieser Erde wandelt wie ich, muss man sich über materielle Dinge keine Sorgen mehr machen. Reichtümer sammeln sich im Laufe der Jahrhunderte fast von allein. Und wozu sonst sollte ich meine unzähligen Reichtümer verwenden, als dazu, meine Spender zu verwöhnen?
Wir haben eine Übereinkunft. Ich versorge sie mit allem, was sie brauchen, ich schütze sie und lasse sie in meinem Haus leben und sie geben mir regelmäßig ihr Blut. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einem Vampir Blut zu spenden. Sind Sie Blutspender? Vielleicht beim Roten Kreuz? Nun, dann kennen Sie bereits eine Möglichkeit. Man kann seine Spender auf medizinische Art und Weise zur Ader bitten. Eine sehr nüchterne und pragmatische Art, die auf einer nüchternen und pragmatischen Zweckbeziehung basiert. Ich bevorzuge die persönlichere Möglichkeit, an das Blut meiner Spender zu gelangen, nämlich frisch aus den Adern. Zugegeben es ist eine sehr intime Vorgehensweise, die eine Menge Vertrauen auf Seiten des Spenders fordert. Vertrauen darauf, dass der Vampir weiß, wann er genug hat, dass er weiß, wann es genug ist, dass er seinem Spender nicht im Blutrausch den letzten Lebenstropfen raubt. Meine Spender vertrauen mir. Blut direkt aus den Adern eines Menschen zu trinken, ist unglaublich berauschend, belebend, wie sonst nichts auf der Welt. Deswegen ist das Bluttrinken für mich mehr als reine Nahrungsaufnahme und deswegen ist es wichtig, dass ich eine Verbindung zu einem möglichen zukünftigen Spender aufbaue, dass ich Nähe zu einem möglichen zukünftigen Spender aufbaue, dass ich Liebe zu einem möglichen zukünftigen Spender aufbaue. Es muss keine romantische Liebe sein, aber eine Liebe, die diesen Menschen für mich zu etwas Unersetzbaren macht. Dafür zahle ich einen hohen Preis. Den Preis des Verlustes, des Schmerzes und der Trauer, wann immer ich mich von einem meiner Spender verabschieden muss.
Auszug
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